Titel
Arktischer Heizraum. Das Energiesystem Kola zwischen regionaler Autarkie und gesamtstaatlicher Verflechtung, 1928-1974


Autor(en)
Frey, Felix
Erschienen
Wien Köln Weimar 2019: ----Bitte auswählen---
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
50,00 €
von
Katja Doose, School of Geography, Earth and Environmental Sciences , University of Birmingham

Die Energiegeschichte Russlands ist bisher vor allem durch historische Forschungen zur Erdöl- und Erdgasförderung bekannt und durch Arbeiten über Russlands Aufstieg zur globalen Energiemacht. Dabei galten nach der Oktoberrevolution zahlreiche andere Energieträger als attraktiver, um die sowjetische Industrialisierung insbesondere in den entlegenen Regionen voranzutreiben. In seinem Buch versucht Felix Frey zu verstehen, was die Bolschewiki in den 1930er Jahren dazu veranlasste, Städte, verarbeitende Industrie und Menschen in unwirtlichen Regionen, am Rande des Imperiums anzusiedeln. Während diese Erschliessungskampagnen von Wirtschaftshistorikern oftmals als fehlkalkuliert beurteilt wurden, weil die so entstandenen verstreuten «Monostädte» unökonomisch seien, geht Felix Frey in seiner aufschlussreichen Studie eben jenen Aushandlungsprozessen nach, die zu diesen Allokationsentscheidungen geführt haben, um der bisherigen ahistorischen Argumentationslinie entgegenzuwirken.

Hierfür konzentriert er sich auf die Geschichte der Energieversorgung Kolas, einer arktischen Halbinsel, die sich innerhalb kürzester Zeit von einer fast unbewohnten, bewaldeten Landschaft zu einer hochindustrialisierten und stark verschmutzten Region wandelte. Ausgehend von der Prämisse, dass der Aufbau energetischer Infrastrukturen keine unabwendbare Folge wirtschaftlicher Nachfrage ist, sondern ein Produkt komplexer Aushandlungsprozesse, untersucht Frey, warum sich im Zeitraum von 1928 bis 1974 verschiedene Energieträger auf der arktischen Halbinsel durchsetzen konnten und wieder an Bedeutung verloren. Den Grund für die spezifisch sowjetische Energie- und Allokationspolitik sieht er im Prinzip der regionalen Autarkie, ein analytisches Konzept, das sich wie ein gut nachvollziehbarer, manchmal jedoch auch wie ein zu deterministischer Faden durch die Untersuchung zieht.

Das Buch teilt sich in zwei Kapitelblöcke, die jeweils auf den Rohstoffen Apatit und Nickel aufbauen. Im ersten Block untersucht Frey, wie während der 1930er Jahre durch Agrarprodukte, Holz, Torf, Steinkohle und Wasserkraft die wachsenden Städte und Industriekomplexe auf Kola mit Energie versorgt wurden. Überzeugend legt die Studie dar, wie Planer und Politiker das Ziel verfolgten, ihren Bedarf an Bodenschätzen, in diesem Fall das Apatiterz, zu befriedigen und gleichzeitig mit der energetischen Abhängigkeit vom Donezker Kohlebecken zu brechen, um die regionale Autarkie zu stärken. So zeigt Kapitel 2, dass die Bemühungen um eine autarke Landwirtschaft zur Versorgung der arbeitenden Bevölkerung zwar enormes propagandistisches Potential entfalteten, weil Wissenschaftler Kola zum Forschungslabor für Nutzpflanzenzüchtung im arktischen Klima umwandelten. Aufgrund aber derselben klimatischen Bedingungen scheiterte das Vorhaben, so dass weiterhin 90 % aller Agrarprodukte auf die Halbinsel geschafft werden mussten. Aller widrigen Umstände zum Trotz setzten Planer zur Energieversorgung anstatt auf Erdöl, auf die Festbrennstoffe Torf, Holz und schliesslich auf den Kohleabbau auf Spitzbergen, um Pfadabhängigkeiten einerseits und regionale Autarkie andererseits zu schaffen. Keiner der drei Brennstoffe setzte sich jedoch durch. Frey sieht die Hauptschuld für das Scheitern der Energieträger Torf und Holz im arktischen Klima, wie es vermutlich auch Zeitgenossen getan haben – ein Argument, das sich durch die gesamte sowjetische Geschichte zieht. Interessant wäre hier zu erfahren, wie genau der wissenschaftliche Diskurs aussah. Gab es auch Gegenstimmen von Experten der Region, die das Klima bereits berücksichtigten? Gewinnerin im Rennen als bestgeeigneter Energierohstoff auf Kola war schliesslich die Wasserkraft, nicht nur wegen ihrer utopischen Zugkraft als neue Technik der Sowjetmoderne, sondern auch, weil sie, wie Frey argumentiert, die regionale Autarkie stärkte.

Im zweiten Kapitelblock erzählt Frey anhand der Förderung von Nickel die Energiegeschichte der Halbinsel Kola für den Zeitraum 1944–1974. In dieser Zeit, so das Kernargument des Buches, gewannen das Streben nach geostrategischem Einfluss sowie internationale und nationale Verflechtungen an Bedeutung, während regionale Autarkie als Motiv an Wert einbüsste. So bauten zum einen finnische und norwegische Bautrupps Wasserkraftwerke auf Kola, damit die sowjetische Regierung Gelegenheit bekam, sich propagandawirksam als Nachbar zu zeigen und pro-sowjetische Haltungen im Ausland zu erzeugen. Ein anderes Kapitel wendet sich der Verwaltungsreform Chruščevs von 1957 zu, die einen Transfer der Verwaltung von Moskau in die Regionen vorsah, die so untereinander energetisch vernetzt wurden. Die Reformen sieht Frey dabei als Reaktion auf die zuvor politisch angestrebte regionale Autarkie, die zwar neue industrielle Knotenpunkte geschaffen hatte, bei der die politische Macht aber weiterhin in Moskau akkumulierte (S. 227). Verständlicherweise passten sich auch Wissenschaftler an die neue Ausrichtung hin zur «energetischen Verflechtung» an. Anhand des wissenschaftlichen Diskurses zur Gezeitenforschung zeigt das neunte Kapitel auf, wie Forscher in dem Energieträger nicht mehr den Garant der regionalen Autarkie sahen, wie dies noch in den 1930ern der Fall gewesen ist, sondern ihn als Gelegenheit für mehr internationale Zusammenarbeit darzustellen wussten. Als letzten Beweis für eine stärkere gesamtstaatliche Verflechtung während des Kalten Krieges führt Frey Kolas 1964 erbautes Atomkraftwerk an, nicht nur weil es in der Uranversorgung auf mehr Infrastrukturen und Wissen fern der Halbinsel angewiesen war als die vorherigen Energieträger, sondern weil durch die Überkapazitäten erstmals Strom von Kola in andere Regionen und Länder floss.

Die Studie schneidet viele Themen über einen grossen Zeitraum an und greift dabei auf einen grossen Quellenkorpus zurück, so dass manche Fragen unausweichlich zu kurz kommen. So kommt den Wissenschaftlern beispielsweise vor allem die Rolle der Propagandisten zu, aber auch sie unterlagen Zwängen und mussten politische Erwartungen erfüllen, die wiederum ihre Forschung beeinflusst haben. Frey ist eine bedeutende Untersuchung gelungen, die die komplexe sowjetische Energie- und Wirtschaftsgeschichte anhand der Halbinsel Kola mit einem spannenden und schlüssigen Narrativ untersucht.

Zitierweise:
Doose, Katja: Rezension zu: Frey, Felix: Arktischer Heizraum. Das Energiesystem Kola zwischen regionaler Autarkie und gesamtstaatlicher Verflechtung 1928–1974, Köln 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (2), 2020, S. 336-337. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00063>.

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